Zambona oder Die letzten sechs Minuten vor dem Tod

Ein Theaterstück von Mark Jakobs

nach Motiven aus dem Leben von
Ilse Jutta Zambona, der Ehefrau
Erich Maria Remarques

Personen:

Jutta auch Peter genannt, Tänzerin, angehende Malerin

Erich ihr Mann, Reporter, Schriftsteller

Paulette Erichs zweite Frau, Schauspielerin, Ex-Frau Charlie Chaplins

Mann im Café

Sekretär

Erste Szene

Bescheidenes Zimmer in Berlin, Herbst 1927, melancholisch eingerichtet. In der Mitte des Zimmers ein Tisch mit zwei Stühlen, rechts eine Tür, links ein Schreibtisch, auf dem eine Schreibmaschine steht. Es befinden sich Blumen und eine halbe Flasche Wein auf dem Tisch sowie eine Zeitung und eine Schere.
Erich sitzt am Tisch, mit den Füßen auf dem zweiten Stuhl. Er raucht und liest in der Zeitung.
Jutta tritt ein, einfach gekleidet.

Jutta (herausfordernd): Hallo, Schriftsteller!
Erich (nimmt die Füße vom Stuhl): Hallo, Tänzerin! Hör mal, ich hab gerad’ in der Zeitung eine Anzeige gefunden: Da steigt heute eine Riesenfeier! Ganz Berlin wird da sein… Musik… Tanz… Champagner… Du kannst tanzen und dich in deiner vollen Schönheit zeigen. Vor allem, wie du nach ein paar Gläsern auf dem Tisch tanzt und dabei nicht eine Flasche umfällt, das ist göttlich! Wie findest du das? Gehen wir hin?
Jutta: Für dich ist wohl das Entscheidende, dass keine Flasche umfällt.
Erich: Und für dich?
Jutta: Nicht in den Salat zu treten!
Erich (kopfschüttelnd): Was meinst du mit „in den Salat treten“?
Jutta (gereizt): Mit „Salat“ meine ich meine erste Ehe mit Werner. Ich will mit dieser Ehe nicht in denselben Salat treten.
Erich: Du ziehst dein neues Kleid an mit dem Dekolleté auf dem Rücken… Da siehst du so bezaubernd drin aus… Und ich…
Jutta: Und du? Wie ich sehe, verlierst du keine Zeit! Hast eine Anzeige gefunden… Die Flasche ist halb leer…
Erich (in verspieltem Ton): Wir sind einfach zu verschieden, Peter. Das ist genau der grundlegende Unterschied zwischen uns beiden. Du meinst, die Flasche sei halb leer, ich aber sehe, dass sie noch halb voll ist! (Streckt die Hand nach der Flasche aus, doch Jutta kommt ihm mit einer schnellen Bewegung zuvor und presst sie an sich.)
Erich: Da sieht man’s mal wieder, die trainierte Tänzerin… Bis ich Tollpatsch die Flasche habe, ist sie längst an deine Brust geflogen, wie ein Vögelchen. Ach, wie gern wär’ ich an ihrer Stelle!
Jutta (setzt sich auf seinen Schoß, legt einen Arm um seinen Hals, hält im anderen die Flasche und sagt sanft): Erich, wir müssen uns ernsthaft unterhalten. Sehr ernsthaft. Über wichtige Dinge!
Erich (mit gespieltem Schrecken): Bist du etwa schwanger? „Sind erst die Kinder da, kann man nicht mal mehr einen trinken!“ Merkst du, ich red’ schon in Versen, ich hab heute meinen lyrischen Tag. „Zuerst nimmt einem die Frau die Flasche weg und dann verstecken die Kinder die Gläser…“
Jutta: Ich weiß schon, dass du keine Kinder möchtest.
Erich: Ich hab nichts gegen Kinder, im Gegenteil, ich mag sie sehr. Wenn es auf der Welt nur Kinder gäbe und keine Erwachsenen, wäre alles viel besser! Die Kinder würden nur Krieg spielen und niemals wirklich Krieg führen. Aber was wäre ich wohl für ein Vater? Und überhaupt… Ich will frei sein!
Jutta (erhebt sich): Nein, Erich, ich bin nicht schwanger. Und ich bin auch für grenzenlose Freiheit – schließlich will ich eine große Malerin werden. Viele meinen, ich hätte Talent.
Erich (zärtlich): Also, Peter, jetzt bin ich wirklich froh, mit dir zu sprechen. Aber lass uns das bitte in der Horizontalen tun: wir ziehen uns aus, legen uns hin, stellen den Wein daneben und reden, so wie wir das vor drei Jahren gemacht haben, als wir noch nicht verheiratet waren. Links eine Flasche Wein, rechts eine schöne Frau… Was kann es Besseres im Leben geben? Wie findest du das?
Jutta: Deiner Lebenseinstellung nach kann es nur besser werden, wenn dies alles im neuesten Mercedes-Cabriolet stattfindet.
Erich: Ja, meine dritte Leidenschaft hätte ich beinah vergessen: Automobile, besonders Cabriolets! Wenn ich das Verdeck öffne…
Jutta: … erinnert dich das an mein Kleid mit dem großen Dekolleté auf dem Rücken.
Erich (verzweifelt): Nein, Peter, das erinnert mich an einen Unterstand, dem das Dach weggesprengt wurde. Auch mein Dach wurde weggesprengt an der Front. Und das ist wirklich der Unterschied zwischen uns!
(Pause)
Jutta (setzt sich, ohne die Flasche hinzustellen, neben ihn an den Tisch, sanft, aber entschieden): Erich, diese ganzen Depressionen hängen mit deinen Erinnerungen an den Krieg zusammen. Du versuchst zwar sie zu ersticken in ständigen Festen und mit viel Alkohol, aber… Nicht ich bin schwanger, du bist es! Erich, du musst dich frei machen von all den schrecklichen Erinnerungen, musst sie zu Papier bringen… Dann wird es dir besser gehen und vielleicht hören dann auch endlich deine Depressionen auf!
Erich: Glaubst du?
Jutta: Manchmal höre ich nachts, wie du im Schlaf sprichst. Da wiederholst du immer wieder die Namen deiner Kameraden, die an der Front gefallen sind. Und ich kriege jedes Mal unglaubliche Angst.
Erich (betont ironisch): Noch keine Frau, mit der ich geschlafen habe, hat mir so was erzählt.
Jutta: Bist wohl bei denen nie eingeschlafen?
Erich: Nein, mit denen ist es nicht zum Einschlafen… Nur mit der geliebten Frau kann man sanft einschlafen und sich noch etwas im Schlaf unterhalten.
Jutta (ernst): Erich, ich bin deine Frau und kenne dich besser als alle anderen. Ich kann dich natürlich nicht zwingen, aber du musst diese Erinnerungen an deine gefallenen Freunde und die bedauerlichen Schicksale der am Leben Gebliebenen irgendwie loswerden. Das kannst du nicht ewig mit dir herumtragen! Du bist doch Schriftsteller. Warum schreibst du es nicht auf?
Erich: Das will doch heute niemand mehr lesen, der Krieg ist seit neun Jahren vorbei.
Jutta: Schreib es vor allem für dich selber auf! Wenn es erst zu Papier gebracht ist, sehen wir weiter. Womöglich kann dieses Buch noch anderen helfen und du wirst vielleicht noch berühmt.
Erich (ironisch): Ich bin auch so berühmt – ich habe einen Titel!
Jutta: Wozu einen Titel für 500 Mark kaufen und das Schild an der Tür auswechseln, wenn man doch ewig unbedeutend bleibt!
Erich: Ich habe immerhin schon zwei Romane geschrieben, nur der Nobelpreis lässt auf sich warten.
Jutta: Du hörst mir nicht zu, Erich. Ich meine dein neues Buch, von dem du mir erzählt hast, über das, was du am allerbesten kennst!
Erich (ernst): Peter, du redest vom Krieg?
Jutta: Ja, ich meine deinen Kriegsroman. Du musst einfach die ganze Wahrheit über den Krieg erzählen, wie er wirklich war, mit allem Dreck und allem Schmutz, mit aller Barbarei. Du darfst nichts beschönigen!
Erich: Warum sprichst du jetzt eigentlich über meinen Kriegsroman? Glaubst du denn, die Literatur kann etwas im menschlichen Leben verändern oder gar einen neuen Krieg abwenden? Du hast mir doch selbst gesagt, dass kein Buch, nicht einmal die Kirche, Krieg verhindern kann.
Jutta (ermüdet): Ich habe einiges gesagt…
Erich: Deswegen sind wir doch beide aus der Kirche ausgetreten, du hast deine Protestanten verlassen und ich meine Katholiken. Und jetzt willst du mich überzeugen, einen wahren Roman über den Krieg zu schreiben, als ob die Schrecken des alten Krieges einen neuen, noch blutigeren Krieg verhindern könnten. Wenn das so einfach wäre, Peter, dann wäre nach dem Mord an Abel nie wieder Blut geflossen. Diese Geschichte steht schon in einem Buch, das die Europäer seit zweitausend Jahren immer wieder lesen, und trotzdem haben sie nie aufgehört, sich gegenseitig umzubringen.
Jutta: Du musst deine Pflicht erfüllen, Erich, vor den gefallenen Kameraden, und alles erzählen, wie es war! Danach sollen die Leute selber entscheiden, ob sie so etwas Grässliches wiederholen wollen oder ob es endgültig genug ist.
Erich: Die Leute entscheiden gar nichts. Nur ein oder vielleicht zwei Menschen entscheiden über das Schicksal von Millionen.
Jutta (nach einer Pause, sanft): Vielleicht vermag ein Buch nicht das Schicksal aller Menschen dieser Erde zu verändern, aber das Schicksal seines Autors und das seiner Frau – das kann es! In Berlin gibt es so viele Versuchungen, die einen von der Arbeit abhalten, Erich, fast wie in Paris. Victor Hugo hat sich, um in Ruhe arbeiten zu können, einen Streifen Haare mitten auf dem Kopf abrasiert. So konnte er sich nirgends mehr sehen lassen. (Erfreut:) Ich hab’s: Soll ich dir auch ein wenig den Kopf rasieren? (Nimmt sich lachend die Schere vom Tisch.)
Erich (den Erschrockenen spielend): Nein, nein danke, ich werde auch mit Haaren etwas schreiben können. Und dann habe ich vielleicht eine Glatze und will gar nicht mehr ausgehen.
Jutta: Ach, Erich… (Legt die Schere zurück.) Sieh doch, wie die Zeit vergeht. Ich habe meinen reichen Mann nicht verlassen, um die Frau eines Zeitungsreporters zu werden und den dann noch als Dekoration auf sinnlose Feste zu begleiten!
Erich: Ja, Ehemänner wie dein Tabakfabrikant liegen nicht auf der Straße.
Jutta: Du hast auch keine Zeit verschwendet und mit der Tochter des Chefs geflirtet. Wolltest wohl Karriere machen?
Erich: Ja, doch. Aber warum hast du mich dann überhaupt geheiratet?
Jutta: Um dich zu trösten, als du von ihrer Mutter abgewiesen wurdest. (Lacht, stellt die Flasche auf den Tisch, rückt näher an Erich heran und umarmt ihn kurz.) Weil ich dich liebe und immer lieben werde und weil ich bislang die Einzige bin in ganz Deutschland, die an dein Talent glaubt!
Erich (wieder verspielter): Du liebst mich und glaubst deshalb an mein Talent? Oder glaubst du an mein Talent und liebst mich deshalb?
Jutta: Erich, ich will, dass du endlich ein richtiger Schriftsteller wirst und ich die Frau eines berühmten Autors – und nicht eines unbekannten Tabakfabrikanten.
Erich: Die Frauen sind doch hinterhältig! Wir legen ihnen unsere Seele zu Füßen und sie wollen nur Ruhm und Berühmtheit.
Jutta: Pah, ich werde auch ohne dich berühmt, als Malerin. Bisher male ich nicht schlechter, als du schreibst.
Erich (nachdenklich): Wenn deine Malerei besser ist als mein Geschreibsel, dann wird es Zeit, dass ich mich am Riemen reiße…
Jutta (energisch): Ich bin bereit, dir auf jede Weise zu helfen: Ich werde dein Lektor sein, deine Liebhaberin, deine Frau, deine Bedienstete, wenn du nur erst mal anfängst zu schreiben!
Erich: Dann fangen wir mit der Liebhaberin an! (Versucht sie zu umarmen.) Wie findest du das?
Jutta (schiebt ihn weich zur Seite): Nein, beginnen wir mit dem Lektor!
Erich: Aber du weißt doch, das Papier ist alle, ich habe nichts zum Schreiben.
Jutta: Die Bedienstete geht gleich Papier kaufen und legt es dir direkt auf den Tisch. Du kannst dich so lange auf die Arbeit einstellen und in deinen alten Notizen lesen, in denen sich in letzter Zeit nichts Neues getan hat. (Geht mit der Flasche zur Tür hinaus.)
Erich (nachdenklich): Nichts Neues, nichts Neues, nichts Neues, nichts Neues… (Schreckt auf, ruft ihr hinterher:) Bedienstete, Sie haben den Wein mitgenommen! Wollen Sie damit Papier kaufen gehen?
Jutta (im Türrahmen): Genau, ich tausche ihn ein gegen Papier, denn zurzeit ist leider kein Geld im Haus. (Ab.)
Erich (wieder in sich gekehrt, geht umher): Nichts Neues, nichts Neues… „Im Westen nichts Neues“ hieß das damals in den Meldungen…

Zweite Szene

Café in Berlin, Herbst 1930.
Am Fenster sitzen Jutta und Erich, gut angezogen, Jutta mit teurem Schmuck. Sie trinken Wein und unterhalten sich leise.

Jutta: Du meinst wirklich, wir sollten uns scheiden lassen?
Erich: Das wird für uns beide das Beste sein. Unser Zusammenleben wird immer schwieriger.
Jutta: Getrennt wird es nur noch schwieriger! Ich habe dir immer volle Freiheit gegeben, du konntest tun, was immer du wolltest.
Erich: Was heißt hier, was ich wollte? Weißt du noch, wie du mir 1927 die Weinflasche weggenommen hast?
Jutta: Das ist ein Gedächtnis! Erstens war sie nur halb voll und zweitens habe ich sie gegen die Packung Papier eingetauscht, auf der du deinen besten Roman geschrieben hast, der dich reich und berühmt gemacht hat.
Erich: Es war doch nur eine halbe Packung Papier. Wenn du den Wein gegen eine ganze Packung eingetauscht hättest, hätte ich mit Sicherheit zwei Romane geschrieben und wäre jetzt doppelt so berühmt. Wie findest du das?
Jutta: Du bist auch mit diesem einen Roman schon so bekannt geworden, dass die Nazis dich auf der Liste ihrer Feinde gleich neben Thomas Mann führen.
Erich: Wohin der Weg auch führen mag, es ist immer angenehm, in einem Atemzug mit einem Nobelpreisträger genannt zu werden!
Jutta (nachdenklich): Dieser Weg, Erich, führt in die Emigration.
Erich: Was meinst du damit?
Jutta: Ich meine, solange du dein gesamtes Honorar für Film und Buch noch nicht verprasst hast, solltest du dir ein Haus in der Schweiz kaufen. Dort wird dein Geld sicher sein und du wirst immer einen Rückzugsort haben. Sprich doch mal mit Ruth Albu darüber, sie kennt sich nicht nur mit Kunst aus, sondern kann dir mit Sicherheit auch hier einen guten Rat geben.
Erich: Du denkst wirklich, es wird so weit kommen?
Jutta: Heute in der Straßenbahn habe ich in der Zeitung meines Nachbarn gelesen, dass dein wahrer Name „Kramer“ ist, also Remark umgedreht, und dass du eigentlich ein französischer Jude bist. Deshalb hättest du auch einen solch antigermanischen Roman geschrieben. (Mit trauriger Ironie:) Und ich, die ich seit sieben Jahren mit dir verheiratet bin, habe nichts davon gewusst. Hoch lebe Goebbels, er hat mir die Augen geöffnet!
Erich (müde): Goebbels hat recht: Je dreister eine Lüge ist, desto eher wird man sie glauben. Wenn ich nur lange genug jeden Tag wiederhole, dass schwarz eigentlich weiß ist, wird mir das am Ende jeder glauben.
Jutta: Ich bin vorhin am Kino vorbeigefahren, wo am 4. Dezember die Premiere von „Im Westen nichts Neues“ stattfindet. Wenn du wüsstest, was diese Halbstarken unter Goebbels da anstellen. Du hängst bei ihnen, zusammen mit dem Regisseur, schon am Galgen!
Erich: Milestone hat mich übrigens aus Hollywood angerufen. Er macht sich wirklich Sorgen, ob die Premiere stattfinden kann.
Jutta (aufgeregt): Sie haben schon die Filmprüfungskommission eingeschaltet und wollen den Film offiziell verbieten. Was hast du Milestone denn gesagt?
Erich: Ich meinte nur, alles sei in Ordnung. Soll ich ihm etwa sagen, dass in Deutschland alle den Verstand verloren haben und nur meine Frau, von der ich mich scheiden lasse, der einzige noch vernünftige Mensch ist? Dann wird er fragen, wieso ich mich scheiden lasse. (Nimmt Juttas Hand, ernst und sanft.) Peter, ich werde immer dankbar sein für die halbe Packung Papier und die sechs Wochen, als du mich nicht aus der Wohnung gelassen hast, damit ich unermüdlich arbeite. Ohne dich wäre dieser Roman niemals etwas geworden! Durch dich haben wir den abfahrenden Zug gerade noch erwischt.
Jutta: Diesen Zug mögen wir gekriegt haben, aber noch ist nicht klar, wo er uns hinbringen wird.
Erich: Immer deine ewige Melancholie! Heute könnte man einen Roman wie „Im Westen…“ gar nicht mehr veröffentlichen, weil diese Nazis überall ihre Finger im Spiel haben. Sie haben ihre Leute an jeder Ecke und zensieren alles, was ihnen nicht passt. Wir hatten wirklich noch mal Glück, dass wir es geschafft haben.
Jutta: Fischer hat deinen Roman schon damals abgelehnt und du konntest ihn nur bei Ullstein herausbringen.
Erich (nimmt und küsst ihre Hand, sanft): Peter, ich werde niemals vergessen, was du damals für mich getan hast. Alleine wäre ich dazu niemals im Stande gewesen.
(Schweigen)
Jutta: Erich, bist du allgemein gegen die Ehe oder nur gegen eine Ehe mit mir?
Erich: Der einzig gute Grund für eine Ehe, Peter, ist, dass ein Mensch seine fünf letzten Minuten auf Erden nicht allein sein sollte. Jemand sollte ihn hinüberbegleiten, wenn er zur letzten Überfahrt ansetzt.
Jutta: Dann sollte man wohl sechs Minuten vor dem Tod heiraten.
Erich: Ja, ungefähr dann, man müsste nur wissen, wann es so weit ist.
Jutta: Dann werde ich warten, auf eine Heirat mit dir, „sechs Minuten vor dem Tod“.
Erich: Du denkst, wir müssen nicht mehr lange darauf warten?
Jutta: Wenn man nach der jetzigen Lage urteilt, kann es nicht mehr lange dauern.
Erich: Du musst verstehen, Peter, die Scheidung ist nur eine formale Angelegenheit, wie eine Ehe. Bloß ein Stück Papier! Wir werden weiterhin die besten Freunde bleiben.
Jutta: Wenn es bloß Papier ist, wieso willst du dann die Scheidung?
(Pause)
Erich: Na ja, Peter, viele Frauen verlieren einfach das Interesse an mir, wenn sie erfahren, dass ich verheiratet bin, und ich stehe bei ihnen auf verlorenem Posten, weil sie einfach keine Perspektive mit mir sehen.
Jutta: Erich, ich habe nie etwas gegen deine Affären eingewendet. Vielleicht musst du ja als Schriftsteller deine Inspiration in anderen Frauen suchen.
Erich: Ich habe auch niemals über deinen Regisseur und andere Männer gesprochen. Ich weiß, du bist von mir finanziell abhängig und du hast mein Wort: Ich werde dich immer materiell unterstützen!
Jutta: Vielen Dank, aber das muss ich noch abwarten. Es hängt doch stark davon ab, in wessen Fänge du noch geraten wirst. Ein Versprechen ist schriftlich doch immer sicherer.
Erich: Mit wem ich auch zusammen sein werde, du kannst immer auf mich zählen. Übrigens, wo willst du eigentlich deinen Urlaub verbringen?
Jutta: Ich weiß nicht, meine finanziellen Möglichkeiten sind noch nicht vollständig geklärt.
Erich: Peter, ich habe eine Idee: Wir lassen uns scheiden und fahren danach gemeinsam in den Urlaub! Wie findest du das?
Jutta: Erich, die Menschen fahren in Urlaub, wenn sie heiraten. Und wir sollen uns scheiden lassen und dann gemeinsam wegfahren? In die Antiflitterwochen?
Erich: Du selbst hast es mir doch immer gesagt: Entfliehe dem Durchschnittlichen! Stell dir vor, in diesen Antiflitterwochen werde ich dir wieder den Hof machen, dir Blumen schenken, nicht mehr mit meiner Ehefrau, sondern mit einer freien Frau schlafen. Das sind doch ganz neue Empfindungen! Und das alles nur, weil sich ein Papier geändert hat.
Jutta: Ja, ein Pass, eine Ehe, ein Liebesbrief, ein Roman – alles bloß Papier!
Erich: Die Menschen hängen doch so sehr vom Papier ab und was darauf geschrieben steht.
Jutta (nachdenklich und leise): Erich, ich bin bereit, zur Scheidung, zum Urlaub, mit dir bin ich zu allem bereit.
(Ein Mann geht schnell am Tisch vorbei und legt einen Zettel auf den Tisch.
Jutta und Erich sehen sich fragend an. Jutta steckt den Zettel unauffällig und ungelesen in ihre Handtasche.)
Jutta (laut): Liebster, ich muss mal auf Toilette. Ich bin gleich zurück. (Küsst Erich und geht.)
(Erich gießt sich nervös Wein ein und trinkt langsam. Jutta kommt wieder, setzt sich nicht gegenüber, sondern neben Erich, legt den Arm um ihn.)
Erich (flüstert): Was war das?
Jutta: „Sie müssen Berlin schnellstens verlassen. Sie werden verfolgt und man will Sie töten. Ihr Leser“
(Sie sehen sich um Fassung bemüht an.)
Jutta: Kanntest du den Mann?
Erich: Ich habe ihn gerade zum ersten Mal gesehen.
Jutta: Wir sollten gehen, solange es noch hell ist.
Erich: Ich werde allein gehen, es ist zu gefährlich für dich.
Jutta: Nein, Erich, ich werde mit dir gehen. Selbst für die SA ist es schwerer, im Beisein von Zeugen zu morden.
Erich: Du bist mir ein Zeuge! Für die bedeutet es nichts, auch einen Zeugen zu töten.
(Sie verlassen das Café Hand in Hand.)

Dritte Szene

Villa Porto Ronco in der Schweiz, 1937/38.
Erich sitzt am Tisch und liest Zeitung, auf dem Tisch eine Flasche Wein, links neben ihm ein Koffer mit vielfältigen Reiseaufklebern (Paris, Rom, Venedig, Salzburg, Porto Ronco.)
Jutta tritt ein.

Erich: Jutta, die Zeitungen sind heute spannender als jeder Krimi. Jeden Tag was Neues, vor allem aus unserer Heimat. Wie findest du das?
Jutta (nüchtern): Da ist ein Brief für dich angekommen. (Gibt Erich den Brief.)
Erich (öffnet den Umschlag und überfliegt das Schreiben): In der Sprache des Duce! Früher hätte ich „in der Sprache Dantes“ gesagt. (Gibt Jutta den Brief zurück.) Kannst du das bitte aus der Sprache deiner römischen Vorfahren übersetzen? Dir geht es doch hier wunderbar! Sprichst vier Sprachen und kannst dich mit jedem Schweizer unterhalten.
Jutta: Nur nicht mit ihren Beamten! (Liest den Brief.) Sie schreiben dir, dass das Visum deines Gastes aus Deutschland, Ilse Jutta Zambona, bald ausläuft, und drohen damit, mich zurück ins Reich zu schicken. (Pause, sie umarmt Erich.) Erich, ich habe solche Angst. Wenn sie mich zurückschicken, ist das mein Tod!
Erich (locker): Aber was wollen sie dir anhängen, du bist keine Jüdin! Du bist aus der Kirche ausgetreten, na und, solche gibt es zu Genüge in Deutschland, und du bist ein paar Mal auf Tischen getanzt, wobei du sehr gut getanzt hast und nicht eine Flasche umgeschmissen hast…
Jutta (ernst): Verstehst du denn nicht: es geht hier nicht um mich, sondern um dich! Du stehst auf ihrer Liste, zusammen mit Mann, Feuchtwanger, Brecht und den anderen, darum wollen sie mich einsperren.
Erich: In gewissem Sinne bin ich ihnen dankbar: in eine solche Gemeinschaft aufgenommen zu werden! Sie haben wirklich guten Geschmack bewiesen und nur die Besten ausgesucht!
Jutta: Aber weshalb hassen sie diese Menschen so?
Erich: Weil Faschismus nichts anderes ist als eine Ansammlung der Mittelmäßigkeit, die keine abweichenden Meinungen duldet. Aber Talent überschreitet die gegebenen Grenzen und entdeckt immer wieder Neues. Und deshalb hassen sie diese Menschen.
Jutta: Aber ich bin doch bloß die Frau von einem von ihnen!
Erich: Na, wenn man alle Frauen gefangen nähme, mit denen ich was hatte, dann reichten die Gefängnisse in Deutschland einfach nicht aus. Das weißt du doch selbst! Und dann noch die Frauen von Brecht, von Zweig…
Jutta: Ich finde das überhaupt nicht witzig, das ist tödlicher Ernst! Ich verstehe, dass du jetzt nur an Marlene denken kannst, aber es geht hier auch gar nicht um mich. Sie brauchen mich überhaupt nicht, aber sie kommen dir immer näher.
Erich (nimmt sich erneut den Brief und betrachtet ihn): Ja, sie sind nah dran, ich kann es spüren.
Jutta: Wir müssen an die Pässe irgendeines neutralen Landes kommen, Schweden etwa, oder Panama.
Erich: Wieso denn das?
Jutta: Dieser Brief hier ist nur der erste Schritt! Bald entziehen sie uns die deutsche Staatsbürgerschaft, du liest doch Zeitung. Und ohne Pass nehmen die USA niemanden auf.
Erich (erregt): Was haben sie für ein Recht, uns die Staatsbürgerschaft wegzunehmen!
Jutta: Was hatten sie denn für ein Recht, schon drei Monate nach der Machtübernahme im Mai ’33 deine Bücher zu verbrennen? Jetzt sind sie fünf Jahre an der Macht, deine Staatsbürgerschaft bedeutet ihnen gar nichts!
Erich: Du hast schon recht, für diese Nazibonzen wird das kein Problem.
Jutta (mechanisch): Nazibonzen, Nazibonzen… Vielleicht sollte ich mit Edith darüber reden, sie ist meine ältere Schwester und…
Erich: Was soll sie denn für dich tun! In eurer Kindheit hat sie dich beschützt, aber jetzt seid ihr erwachsene Menschen.
Jutta: Immerhin war sie mit Heinrich Göring, Hermanns Bruder, verheiratet, vielleicht kann sie uns helfen.
Erich: Weißt du eigentlich, dass dein ehemaliger Verwandter Hermann Göring mir ’35 seinen Staatssekretär Körner hierher nach Porto Ronco geschickt hat? Er stand genau da, wo du jetzt stehst.
Jutta (überrascht): Wieso denn das?
Erich: Er sollte mich in Görings Namen dazu überreden, ins Reich zurückzukehren. Wie findest du das?
Jutta: Aber aus was für einem Grund sollte er das?
Erich: Es klang sehr überzeugend: Deutschland versammele vor den Olympischen Spielen alle berühmten Schriftsteller, Wissenschaftler, kurz: alle Größen der Nation, um der Welt zu zeigen, wie stark es ist. Und nach der Olympiade, so haben sie es wohl geplant, stecken sie diese Größen alle gemeinsam ins Konzentrationslager.
Jutta: Und was hast du zu ihm gesagt?
Erich: Ich habe abgelehnt und gesagt, ich führe nach Venedig.
Jutta: Nach dieser Ohrfeige werden sie uns erst recht die Staatsbürgerschaft entziehen.
Erich: Heinrich Göring ist immerhin Augenarzt, und Augenärzte sehen gewöhnlich weiter als andere.
Jutta: Ja, er sieht besser als sein Bruder, wohin das alles führt, und teilt, soweit ich weiß, nicht sein Weltbild.
Erich: Hat Edith nach der Scheidung eigentlich wieder geheiratet?
Jutta: Ja, irgendeinen reichen Schweizer namens Schleuss, sie leben bei Davos.
Erich: Das ist ja hier gleich nebenan.
Jutta: Vielleicht sollte ich hinfahren und mit ihr reden, auf dass mich die Schweizer in Ruhe lassen.
Erich: Hast du noch alle Tassen im Schrank? Auf dem Weg hält dich die Polizei an und du bist gleich wieder zu Hause in Deutschland. Sie wollen sich mit den Nazis gut stellen, um zu verhindern, dass sie auch hier einmarschieren. Lieber liefern diese Angsthasen ein paar Emigranten aus, als dass die Nazis ihnen ihre Schweizer Ordnung durcheinanderbringen.
Jutta: Wenn sie es bis hierher schaffen, sind unsere Chancen gleich null.
Erich: Genau deswegen müssen wir uns beeilen! Ich kenne jemanden in der Botschaft von Panama, womöglich kann er uns helfen. Wie mir ein russischer Emigrant in Paris sagte: „Bereite den Schlitten im Sommer.“
Jutta (interessiert): Du hast in Paris russische Emigranten kennen gelernt?
Erich: Warum fragst du, was ist daran so interessant?
Jutta: Weil sie auch vor einer Diktatur flüchten mussten.
Erich: Es leben da die verschiedensten Russen. Es gibt Gebildete und sehr Intelligente, aber genauso auch ganz einfaches Volk. Aber sie alle erwecken Mitleid.
Jutta: Ich interessiere mich so sehr für diese Emigranten, weil wir bald auch welche sein werden, aber nicht russische in Paris, sondern deutsche in New York, und vielleicht werden die Unterschiede zwischen uns kleiner sein, als wir glauben.
(Pause)
Erich: Jutta, ich will dir einen Antrag machen.
Jutta (überrascht): Was für einen Antrag?
Erich: Was für einen Antrag kann ein Mann wohl einer Frau machen? Natürlich einen Heiratsantrag! Wie findest du das?
Jutta (unverständig): Einen Heiratsantrag?
Erich: Ja, genau, was ist daran nicht verständlich? Heirate mich!
Jutta: Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Du bietest einer Frau, von der du seit sieben Jahren geschieden bist, an, dich zu heiraten?
Erich: Genau! Weißt du nicht mehr, wie wir besprochen hatten, dass man „sechs Minuten vor dem Tod“ heiraten soll? Ich denke, es könnte so weit sein…
Jutta: Hast du denn schon vor zu sterben? Gerade jetzt, in deiner heißesten Phase mit Marlene? Du liebst Marlene, aber willst mich heiraten? Das verstehe ich wirklich nicht.
Erich: Die Liebe und die Ehe sind zwei ganz verschiedene Dinge. Man sollte das nicht vergessen. Oder kannst du dir vorstellen, wie Marlene den Abwasch macht? Wie findest du das?
Jutta: Das ist wirklich unmöglich!
(Pause)
Erich: Jutta, wir brauchen ja nur eine Scheinehe zu schließen. Dann kannst du erst einmal sicher hier in der Schweiz bleiben, und falls wir emigrieren sollten, wird uns das eine große Hilfe sein. Ich kenne jemanden in St. Moritz, der uns bei der Eheschließung helfen könnte.
Jutta: Und diese Ehe verpflichtet uns zu nichts?
Erich: Es ist doch nur eine Scheinehe, weder du noch ich werden dadurch zu irgendetwas verpflichtet. Solltest du jemand anderen heiraten wollen, so kannst du das jederzeit tun, und ich ebenso.
Jutta: Und dann fahren wir zusammen nach Amerika?
Erich: Wenn wir das tun, sieht es nach Flucht aus. Wir besorgen uns Pässe eines neutralen Landes und reisen am besten getrennt, ohne Aufsehen zu erregen. Ich erwarte dich dann in New York.
Jutta: Ja, Erich, ich bin bereit, dich wieder zu heiraten. Mit dir bin ich zu allem bereit.

Vierte Szene

New York, Zimmer im „Hotel Pierre“, 1957.
Jutta sitzt im Sessel, Erich am Tisch, auf dem Tisch Blumen und Wein.

Erich: Weißt du noch, wie wir 1930 in Berlin im Café saßen und über unsere erste Scheidung sprachen?
Jutta: Wieso unsere erste? Willst du jetzt etwa über eine zweite Scheidung sprechen?
Erich: Du hast mich schon immer gut verstanden.
Jutta: Erich, du wirst bald sechzig! Ich dachte, du wärst endlich erwachsen geworden und wir würden unsere „Scheinehe“, die wir bald zwanzig Jahre führen, nicht anrühren!
Erich: Nichts währt ewig. Im nächsten Jahr kann ich meine Scheinehe gegen eine echte eintauschen. Du weißt doch, dass ich nun schon sechs Jahre mit Paulette zusammen bin.
Jutta: Na und? Mit Marlene hielt es auch lange, aber irgendwann war das Feuer erloschen.
Erich: Marlene ist ein besonderer Fall. Jeder Mann, der mit ihr zusammen war, hat eine eigene Theorie entwickelt. Billy Wilder meinte, Marlene sei wie Mutter Teresa, nur mit wunderschönen Beinen. Und genauso gut zu allen! Sie hat niemals einen Mann abgewiesen, und erst recht keinen, der an der Front gewesen ist. Sie bemitleidete sie alle und hat zu Billy gesagt: „Wieso kannst du das nicht verstehen? Man hätte sie an der Front töten können!“ Als Billy Marlene ’46 in Paris traf, fragte er sie, ob sie schon mit Eisenhower geschlafen hätte. „Wie könnte ich nur?“, antwortete sie ihm, „der war doch nie an der Front!“ Wahrscheinlich wollte Billy mich beruhigen, aber seitdem zähle ich mich zu ihren „Frontbekanntschaften“. Wie findest du das?
Jutta: Sechs Jahre mit Paulette sind vielleicht nicht genug. Du warst zehn Jahre lang mit Natascha Paley zusammen, der wunderschönen russischen Gräfin, aber auch das ging vorbei. Vielleicht solltest du keine neue Ehe mit Paulette eingehen, wenn ihr euch später sowieso wieder trennen werdet. Wäre es nicht besser, alles beim Alten zu lassen? Weißt du noch, wie du mir vor unserer ersten Ehe Gedichte vorgelesen hast?
Erich (sanft): Womöglich habe ich so etwas gelesen. Ich war ein Romantiker, wie Gottfried Lenz in meinen „Drei Kameraden“.
Jutta: Du bist es geblieben, wenn du mit sechzig noch an eine frische Liebe glaubst. Ich habe dir auch Gedichte geschrieben – aber ich habe sie dir nie gezeigt.
Erich: Du wirst sie mir noch irgendwann vorlesen. Aber sag, was stört dich an dieser Scheidung? Wir hatten doch abgemacht, dass es nur eine Scheinehe ist und wir uns sofort scheiden lassen, wenn du oder ich dazu eine Notwendigkeit verspüren.
Jutta: Aber Erich, ich bin doch selbst nicht in der Lage…
Erich: Du fürchtest dich vor finanziellen Problemen? Aber ich habe dir schon 1930 versprochen, dich materiell und moralisch immer zu unterstützen, und ich habe mein Wort gehalten.
Jutta: Ja, das hast du. Du mietest mir dieses Hotelzimmer, das dreimal so teuer ist wie deine Wohnung in der 57ten.
Erich: Lass uns nicht so von der Poesie zum schnöden Mammon wechseln!
Jutta: Ja, gut… Aber weißt du noch, wie du mich im Oktober ’39 mit Blumen empfangen hast, als ich gleich nach Kriegsausbruch auf der Flucht aus Europa hier ankam? Du hast mir zwei Sträuße Rosen geschenkt, und ich hatte die Hoffnung, dass für uns in einem neuen Land ein neues Leben beginnen könnte.
Erich: Das könnte es wohl, wenn es hier nicht dieses Hollywood gäbe, das immer wieder so einmalig leckere Häschen produziert.
Jutta: Weißt du noch, wie uns ’38 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, erst dir und dann mir? Das war für mich vielleicht ein Schrecken, aber du meintest nur, dass Panamas Staatsbürgerschaft jetzt besser wäre als die deutsche. Willst du übrigens wieder die Staatsbürgerschaft annehmen?
Erich: Sie haben es mir mehrere Male vorgeschlagen, aber ich habe immer geantwortet, dass ich niemals nach Deutschland zurückkehren werde, solange der Staat sich nicht öffentlich für die Bücherverbrennung entschuldigt.
Jutta: Ich denke manchmal zurück an unsere Reise nach Mexiko im März 1940, als wir unsere Aufenthaltsgenehmigung für die USA verlängern lassen mussten. Und weißt du noch, wie wir meine Schwester in New Jersey besucht haben? Du hattest das allerneueste Cabriolet gemietet und bist gerast wie ein Irrer. Ich hab dabei meinen Schal verloren – und du den Hut, den ich auf der 5ten für dich gekauft hatte.
Erich: Ja, das war ein wirklich guter Hut.
Jutta: Weißt du noch, wie wir vor zehn Jahren die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielten und du diese „little party“ geschmissen hast?
Erich: Alle „little parties“ haben sich in meinem Kopf zu einer „big and never-ending party“ verbunden!
Jutta: Ja, und dann hast du dich mit deinem Vater in der Schweiz getroffen, weil du nicht nach Deutschland fahren wolltest und du mit aller Kraft versucht hast, ihn von seinen Überzeugungen abzubringen.
Erich: Wie ein kluger Mann einst sagte: „Die unüberwindbarste Festung ist der menschliche Schädel.“ (Pause) Wieso eigentlich all diese Erinnerungen?
Jutta: Weil, wie ein anderer kluger Mann gesagt hat: „Alles vergeht.“ Auch die Liebe.
Erich: Wer meinte das?
Jutta: König Salomo – und der hatte, weiß Gott, nicht weniger Geliebte als du. Ich wollte dich nur daran erinnern, wie viel wir zusammen erlebt und überlebt haben. Willst du wirklich alles streichen und eine neue Liebe beginnen, wenn doch alles vergeht?
Erich: Danke für deinen Vergleich mit König Salomo. Aber ich bin weder so weise wie er, noch haben seine Frauen als Schauspielerinnen in Hollywood gearbeitet. Sie saßen in aller Seelenruhe im Palast und nähten sich neue Kleider. Doch Hollywood erzeugt eine besondere Art von Frauen.
Jutta: Und Paulette ist eine von ihnen, und sie war die Ehefrau des größten Mannes in Hollywood. Wie willst du ihren Hunger nach Diamanten stillen? Man sagt, sie kauft sie im Dutzend, so wie ich Eier kaufe.
Erich: Ihr Verhältnis zu Diamanten ist sicher nicht ambivalent, und sie versteht was davon. Aber viel wichtiger ist, dass die Steine ihre Stimmung verbessern. Einmal war sie vollkommen depressiv und apathisch. Ich wusste, welches Kollier ihr gefällt, wir haben es gemeinsam ausgewählt. Ich kaufte es und schenkte es ihr, und siehe da, sie war so erfreut, dass von der Depression nicht die Spur übrig blieb. Sie legte sich das Kollier gleich um und wir gingen noch am selben Abend auf eine großartige Feier.
Jutta: Darf man erfahren, wie teuer dieses Kollier war, oder ist das ein Staatsgeheimnis?
Erich: Ich weiß nicht mehr genau, vielleicht 250 Tausend. Und ich habe es mit großer Freude gekauft! Wie findest du das?
Jutta: Du hattest immer Freude daran, Frauen Geschenke zu machen.
Erich: Nicht immer, und nicht jeder. Kennst du noch meine Impressionistensammlung? Ich habe da einen wunderbaren Cézanne. Marlene mochte ihn sehr und deutete einmal an, dass sie bald Geburtstag habe und es nicht schlecht wäre, ein kleines Kunstwerk geschenkt zu bekommen. Ich habe mich zwei Wochen lang gequält, ob ich ihn verschenken sollte. Und ich habe es nicht getan! Ich habe ihr etwas anderes geschenkt, aber gewartet hat sie auf den Cézanne. Marlene hat immer schon auf einen anderen gewartet, egal mit wem sie gerade zusammen war.
Jutta: Meine Depressionen würden auch enden, wenn mir jemand ein Kollier oder einen Cézanne schenken würde!
Erich: Du verstehst meine Beziehung zu Paulette ganz falsch. Ich bin für sie nicht einfach ein Sack voll Geld, ihr Vermögen übersteigt das meine um ein Vielfaches! Und im Vergleich zu Charlie Chaplin bin ich der reinste Bettler. Aber du beneidest sie.
Jutta: Je mehr Geld ein Mensch hat, desto mehr Geld fehlt ihm. Aber du missverstehst auch meinen Neid. Es geht nicht um Geld. Es geht darum, dass diese Frau mit dir die letzten sechs Minuten vor dem Tod verbringen soll, dass sie dich hinüberbegleiten soll – und nicht ich, die ich mit dir auf der Höhe deines Ruhmes und am Abgrund des Todes stand. Mein Neid gilt der Geschichte und der Ewigkeit, und nicht Geld und Diamanten, mein lieber Erich. Ich muss verstehen, wieso du sie mir vorziehst, sonst komme ich nicht zur Ruhe. (Pause) Ich bin bereit, mich scheiden zu lassen. Mit dir bin ich zu allem bereit. (Geht zu ihm und küsst ihn.)

Fünfte Szene

Schweiz, Villa Porto Ronco, Ende 1970, ein paar Monate nach dem Tod Remarques. Dasselbe Zimmer wie in der dritten Szene.
Paulette steht am Tisch.

Sekretär: Mrs. Goddard-Remarque, darf ich Sie daran erinnern, dass Miss Ilse Jutta Zambona bereits seit vierzig Minuten wartet.
Paulette: Vierzig Minuten sind genug Zeit, um zu überdenken, was sie hier überhaupt zu suchen hat. Sie soll reinkommen.
(Sekretär ab. Jutta tritt auf.)
Paulette (kalt): Guten Tag, sweetheart.
Jutta: Guten Tag, Miss Goddard.
Paulette (gereizt): Ich bin nicht Miss Goddard. Mrs. Goddard-Remarque!
Jutta (nachdenklich): Wo liegt da der Unterschied? Miss Goddard, Mrs. Goddard-Remarque?
Paulette: Sweetheart, der Unterschied zwischen diesen beiden Frauen entspricht der Größe Remarques.
Jutta: Schön gesagt. Sie sind recht klug.
Paulette: Sind Sie gekommen, um meine Denkfähigkeit zu prüfen, oder gibt es noch einen anderen Grund? Ich kann Ihnen versichern: Wenn man sechs Jahre mit Chaplin und zwölf Jahre mit Remarque verheiratet ist, kann man einiges lernen!
Jutta: Ich war auch mit Remarque verheiratet, und sogar zweimal: Zuerst fünf und dann noch mal zwanzig Jahre.
Paulette: Das zweite Mal war jedoch eine Scheinehe, sweetheart.
Jutta: Wenn eine Scheinehe einem das Leben rettet, kann man sie als echt bezeichnen. Aber wenn eine „echte“ Ehe ein Leben zerstört, dann kann man sie als Scheinehe betrachten.
Paulette: Sie sind auch nicht untalentiert.
Jutta: Danke, dann wären wir also quitt.
Paulette: Aber weshalb sind Sie gekommen und was wollen Sie eigentlich?
Jutta: Ich möchte die Details von Erichs Testament erfahren.
Paulette: Die Details gehen nur mich, seine echte Ehefrau, etwas an.
Jutta: Gibt es im Testament nicht vielleicht Details, die mich, seine ehemalige Frau, betreffen?
Paulette (zähneknirschend): Da wäre etwas, leider, ja, sweetheart…
Jutta: Und zwar?
Paulette: Bloß eine einzige Zeile.
Jutta: Und worum geht es in dieser Zeile?
Paulette: Um einen Betrag.
Jutta: Was für ein Betrag?
Paulette: Ein unbedeutender.
Jutta: Bitte genauer!
(Pause)
Paulette (kalt): Nur 50.000 Dollar, sweetheart.
Jutta: Für eine Frau, die Diamanten pfundweise kauft, ist dieser Betrag vielleicht unbedeutend, aber für mich…
Paulette (verträumt): Ja, ich liebe Diamanten, sie bereiten mir Vergnügen und machen mich schöner…
Jutta: … als Sie in Wirklichkeit sind.
Paulette (erregt): Woher kennen Sie diesen Satz? Kennen Sie etwa Karen?
Jutta: Karen?
Paulette: Karen Horney, eine Psychoanalytikerin aus New York. Erich war einer ihrer Patienten. Er erzählte ihr, dass er immer bedeutender erscheinen wollte, als er in Wirklichkeit war. Darin lag sein inneres Drama!
Jutta: Ja, das stimmt. Noch während unserer ersten Ehe kaufte er sich einen Titel und ließ das Türschild auswechseln.
Paulette: In seinem Inneren aber war er sehr verunsichert und glaubte nicht an seine Fähigkeiten. Er brauchte immer einen Menschen, der ihn unterstützte und ihm das Gefühl gab, ein großer Schriftsteller zu sein – oder noch besser, ein übernatürliches Genie.
Jutta: Ich habe ihm immer gesagt, dass er ein großer Schriftsteller ist und eines Tages den Nobelpreis erhalten wird.
Paulette: Ja, deshalb hat er Sie auch mit sich um die halbe Welt geschleppt, wie einen Koffer ohne Griff – man trägt schwer daran, aber will ihn auch nicht wegschmeißen. Seinen Nobelpreis hat er schon lange erhalten.
Jutta (überrascht): Wann?
Paulette: 1958, als wir heirateten. Ich bin sein Nobelpreis! Wir trafen uns zufällig im Nobel-Einkaufszentrum in New York, im April 1951, und seitdem hat er mich häufig ironisch seinen Nobelpreis genannt. (Verträumt:) Ich trug einen schneeweißen Rock, einen schwarzen Sweater und einen dünnen Faden aus Diamanten.
Jutta: Ich glaube, sein wahres Drama war seine starke Abhängigkeit von den Frauen, die er liebte. Von allen Männern, die ich kannte, verstand Erich die weibliche Seele am besten, aber in der Praxis war er unfähig, dieses Wissen anzuwenden, und die Frauen machten mit ihm, was immer sie wollten – etwa Marlene.
Paulette: Oder Sie zum Beispiel, sweetheart.
(Sekretär tritt auf mit Blumenstrauß.)
Sekretär: Mrs. Goddard-Remarque, ein Blumenstrauß für das Grab des Herrn Remarque.
Paulette: Schauen Sie bitte nach, von wem.
Sekretär: Von Marlene Dietrich. „An meinen geliebten Erich“.
Paulette: Wenn man vom Teufel spricht! Geben Sie mal her! (Nimmt mit zwei Fingern den Blumenstrauß und wirft ihn in den Papierkorb.) Entsorgen Sie das bitte auf der Stelle!
(Sekretär ab.)
Jutta (überrascht): Wieso haben Sie das getan?
Paulette: Weil ich nichts von Falschheit, Heuchelei und Verlogenheit halte. Sie hat Erich nie geliebt, sondern ihn nur als Schirmherrn und Türöffner benutzt, um in Hollywood Fuß zu fassen.
Hollywood ist eine kleine Stadt, in der jeder über jeden Bescheid weiß. Ich kenne mich aus, ich bin dort aufgewachsen. Also haben Sie bitte Nachsicht mit mir, dass ich auch noch an seinem Grab den Gärtner spiele. Er war nur ein Schmuckstück, um in Hollywood mehr aufzufallen. So, wie Sie es für ihn waren, in Berlin.
Jutta: Sie sind doch in Hollywood aufgewachsen, woher wollen Sie Berlin kennen?
Paulette: Ruth Albu hat mir in London davon erzählt. Von ihr hat Erich sehr vieles gelernt. Etwa, dass beim Abendessen mit einer Frau Tischtücher und Bettwäsche immer handgemacht sein müssen. Und dass Kunstwerke immer Originale sein müssen. Er hat seine Impressionistensammlung mit Ruth Albus Hilfe aufgebaut. Überhaupt hat er von seinen Frauen viel gelernt. Durch mich zum Beispiel hat er angefangen, etwas von Diamanten zu verstehen, allerdings nicht besonders viel.
Jutta: Wieso, kaufte er etwa viel zu kleine?
Paulette: Aber nein, im Gegenteil, sweetheart! Einmal kaufte er mir ein wunderbares Kollier, aber es war so schwer, dass mein Hals es nicht lange halten konnte. Ich trug es am selben Abend und noch einige Male, aber es war immer so anstrengend.
Jutta: Und Sie waren nur ein Schmuckstück für Charlie Chaplin. Wir alle sind für jemanden ein Schmuckstück!
Paulette (scharf): Charlie benötigte keinen Schmuck, sweetheart, der Schmuck benötigte vielmehr Charlie. (Pause) Ich habe leider gerade sehr wenig Zeit, weil ich Erichs letzten Roman und sein Archiv herausgeben muss.
Jutta: Wahrscheinlich sind Sie die Heldin seines letzten Romans.
Paulette (energisch): Da liegen Sie daneben! Der Prototyp der Heldin ist Natascha Paley, das Modell.
Jutta: Ich kannte ihren Mann in Paris.
Paulette: Interessant, und wer war er?
Jutta: Ein berühmter Pariser Homosexueller.
Paulette: Ich habe mich immer gefragt, was Erich und sie fast zehn Jahre lang aneinander gebunden hat. Ich habe sogar angefangen, Dostojewski zu lesen, um hinter die „geheimnisvolle russische Seele“ zu kommen.
Jutta: Und haben Sie etwas begriffen?
Paulette: Ich habe verstanden, dass sie beide unter dem Schicksal der Emigration litten. Ihre Familie war vor den Kommunisten nach Paris geflohen und konnte nicht zurückkehren. Manchmal haben Erich und sie zusammen geweint und getrunken und – es gibt dafür ein altes russisches Wort – sie hat ihn dann „bemitleidet“. Dieses „Bemitleiden“ anstelle von „Lieben“ sagt sehr viel über ihre Beziehung.
Jutta: Sie war nicht bloß die Tochter russischer Emigranten, sondern auch eine Gräfin.
Paulette: Sweetheart, Gräfinnen arbeiten nicht als Modell. Das ist Ihnen hoffentlich klar!
Jutta: Ich arbeite auch nicht, bin ich jetzt eine Gräfin?
Paulette: Sie verwechseln Ursache und Wirkung, sweetheart. Eine Gräfin arbeitet nicht, aber jemand, der nicht arbeitet, ist noch lange keine Gräfin. Man muss es Ihnen aber lassen – Sie haben auf Erichs Kosten wie eine Gräfin gelebt.
Jutta: Wie meinen Sie das?
Paulette: Er zahlte für sein kleines Apartment in der 57ten 150 Dollar, während Ihr Zimmer im „Pierre“ ihn monatlich 400 Dollar kostete, und Sie lebten dort über fünfzehn Jahre, sweetheart!
Jutta: Ich sehe, Sie wissen gut Bescheid über seine Finanzen.
Paulette: Ja, denn ich verdiene mein Geld mit harter Arbeit, nicht so wie Sie, sweetheart! Ich trete noch immer im Kino und in Serien auf, ich pendle zwischen Europa und Amerika, wo meine kranke Mutter lebt. Eine der vielen Eigenschaften von Geld ist, dass es umso schwieriger ist, sich davon zu trennen, je schwerer man es verdient hat. Und deswegen möchte ich Ihnen diese 50.000 nicht auszahlen. Sie haben sie schon lange ausgegeben, und noch einiges mehr – in den fünfzehn Jahren, die Sie auf Erichs Rechnung in New York verlebt haben.
Jutta: Aber ich war doch mit ihm verheiratet!
Paulette: Wieso laufe ich dann nicht hinter allen meinen Ex-Ehemännern her – ich hatte immerhin drei davon – und bettele sie um Geld an? Einer lebt hier in der Nähe am Genfer See, ich könnte ja mal vorbeischauen…
Jutta (beinahe weinend): Aber dieses Geld steht mir zu nach Erichs Testament!
Paulette (zähneknirschend): Wenn er es so wollte, dann soll es so sein! (Friedlicher:) Ich, ein Hollywood-Star, habe übrigens in diesem seltsamen Apartment in der 57ten den gesamten Winter ’52 verbracht. Ich hab ihm Kaffee gekocht und für ihn gesorgt, während er am „Schwarzen Obelisken“ arbeitete. Und Sie, sweetheart, sind überrascht, dass ich den Preis für diese Wohnung kenne.
Jutta: Sie waren also bei ihm, als er den „Schwarzen Obelisken“ schrieb?
Paulette: So wie Sie bei ihm waren, als er „Im Westen nichts Neues“ schrieb. Deshalb hat er uns auch geheiratet, weil wir brave Pflegerinnen waren. Aus Dankbarkeit hat er uns geheiratet. Seine anderen Geliebten haben immer mehr genommen als gegeben – oder können Sie sich vorstellen, wie Marlene ihm Kaffee kocht oder ein Glas Wasser bringt? Mein Talent überragt das Marlenes um einiges, und trotzdem habe ich einen Kochkurs besucht, nur um manchmal für ihn zu kochen. Und deshalb jetzt ihre Blumen! Diese Blumen sind nur ein Spiel, allerdings ein sehr zweckmäßiges. So ist alles bei ihr, auch ihr offizieller Ehemann. (Pause) An diesen berühmten und bewunderten Frauen fehlte Erich die unmittelbare Wärme. Sie konnten ihn nicht wärmen, denn sie benahmen sich mit ihm wie auf einer Bühne und waren unfähig, aus ihrer Rolle herauszutreten: „Die berühmte Geliebte eines berühmten Geliebten!“ Viel Wärme, von einem konkreten Menschen, ist das, was ihm immer fehlte, und ich gab ihm diese Wärme.
Jutta: Und ich gab ihm diese Wärme nicht?
Paulette: Natürlich nicht, sweetheart, weshalb hätte er sich sonst von Ihnen scheiden lassen? Auf der einen Seite standen Ruth Albu, Lupe Velez oder Greta Garbo, die ihn liebten und mehr gaben als nahmen. Er konnte nie lange bei solchen Frauen bleiben. Auf der anderen Seite standen Frauen wie Marlene, die immer nur nahmen. Allein ihr Versuch, seine Impressionisten geschenkt zu bekommen, spricht Bände. An diese Frauen war er gebunden, da haben Sie recht. Er gab lieber!
Jutta: Und welcher Kategorie gehören Sie an?
Paulette: Ich war die Goldene Mitte. Er schenkte mir Diamanten und war glücklich, mir solche Geschenke machen zu können, obwohl mein Vermögen ein Vielfaches des seinen betrug. Ich weiß noch, wie wir ’58, schon nach unserer Hochzeit, in der „Scala“ waren. Er bat mich, das teure Kollier zu tragen, das so schwer war, dass es weh tat. Aber ich habe es getragen, weil ich sah, dass es ihm Freude bereitete.
Jutta: Und Sie schenkten ihm dafür menschliche Nähe und Wärme.
Paulette: Mit dieser Wärme legte ich, wie er es in seinen Tagebüchern nannte, „eine Leine um seinen Hals“. An dieser Leine zog ich ihn um die ganze Welt – oder vielleicht war es so, dass er mir folgte. Viele meinen, ich hätte ihm keine Ruhe gelassen, um zu arbeiten.
Jutta: Aber so war es ja auch!
Paulette: Aber sehen Sie sich nur das Ergebnis an: Mit meiner Leine um den Hals schrieb er mehr Romane als bei Ihnen, als er frei und einsam war! Dabei war er schon in sehr fortgeschrittenem Alter, als wir uns kennen lernten, und seine Kräfte waren längst nicht mehr die alten.
Jutta: Sie denken ja wie ein Buchhalter!
Paulette: Meine Liebe, ich habe die eiserne Schule Hollywoods besucht und sie erstklassig abgeschlossen. In Hollywood habe ich gelernt, an mich zu glauben und durch ständige Arbeit meine Ziele zu erreichen. Hollywood wird manchmal als ein großes Schlafzimmer angesehen und womöglich ist es das tatsächlich. Aber es ist weniger wichtig, mit wem du ins Bett gehst, als mit wem du dich zum letzten Mal hinlegst, ins Grab. Wichtig ist, mit wem du in der Ewigkeit verbleibst. Ich habe mir Erich Maria Remarque zum ewigen Geliebten gewählt und werde für immer bei ihm sein. Ich habe fünf Jahre lang mit Ihnen darum gekämpft, bis Sie in die Scheidung einwilligten. (Pause) Und Sie, sweetheart, kämpfen jetzt um Ihre 50.000.
Jutta (nachdenklich): Wenn ich Blumen an Erichs Grab schicke, werden Sie sie auch entsorgen?
Paulette: Nein, Ihre Blumen werde ich ihm zu Füßen legen. (Pause) Ich möchte Sie auch etwas fragen. Warum sind Sie eigentlich gekommen? Nur um die 50.000 zu erhalten? Ich habe mich damit sehr schwergetan und wollte sie Ihnen, ehrlich gesagt, nicht auszahlen. Sie haben, was Ihnen zusteht, schon lange erhalten und außerdem Erichs Scheidung so lange hinausgezögert. Aber Sie hätten nicht selbst kommen müssen. Ein Brief, oder im Notfall Ihr Anwalt, hätte es auch getan.
Jutta: Ich bin natürlich nicht nur wegen des Geldes hier, sondern auch, um mit Ihnen persönlich alles zu klären. Ich wollte begreifen, welche Frau er gewählt hat, damit sie die letzten sechs Minuten vor dem Tod bei ihm ist.
Paulette: Und haben Sie es verstanden, sweetheart?
Jutta: So, wie Sie Dostojewski verstanden haben. (Pause) Sie meinen also, wir seien für ihn bloß brave Pflegerinnen gewesen?
Paulette: Sie waren bloß sein Schatten, sweetheart, ein Schatten im Paradies.
Jutta: Und was waren Sie?
Paulette: Ich war seine bessere Hälfte, das ist der Unterschied zwischen uns.
Jutta: Sie meinen, Sie waren die Hauptpflegerin und spielten eine größere Rolle als ich?
Paulette: Natürlich! Ein Schatten ist nichts ohne sein Objekt, aber eine Hälfte kann ohne die andere existieren. Leider nur existieren, nicht leben.
Jutta: Dann wüsste ich gerne, warum Sie mich so verachten.
Paulette: Na, weil Sie sich längst ausgegebenes Geld abholen wollen, sweetheart!
Jutta: Das ist nicht der wahre Grund, für Sie ist das doch eh eine Kleinigkeit.
Paulette: Sie haben fünf Jahre lang die Scheidung einer Scheinehe verhindert und ich konnte ihn deswegen nicht offiziell heiraten. Wieso sollte ich Sie, sweetheart, mögen?
Jutta: Die Ehe ist es auch nicht! Sie lebten auch so mit ihm zusammen, da ist die Heirat nicht entscheidend. Sie wissen genau, warum Sie mich so verachten, Sie wollen es sich nur nicht eingestehen.
Paulette: Interessant, was kann ich mir nicht eingestehen? Dass halb Hollywood durch sein Bett gehüpft ist?
Jutta: Wichtig ist nicht, wie viele Frauen in seinem Bett übernachtet haben, sondern wie viele von ihnen Spuren in seinem Gedächtnis und in seiner Seele hinterlassen haben. Ich hatte einen Platz in seinem Herzen, das beweist diese eine Zeile im Testament. Die Zahl ist nebensächlich, wichtig ist, dass er sechs Minuten vor dem Tod an mich gedacht hat. Sie sind eifersüchtig auf dieses kleine Stück Erinnerung und Seele, denn Sie beanspruchen ihn komplett für sich, aber dieser Teil seiner Seele wird mir für immer bleiben. Das ist der wahre Grund für Ihre Verachtung!

Sechste Szene

Monte Carlo, 22. Juni 1974, ein ähnliches Zimmer wie in der ersten Szene. Auf dem Tisch vertrocknete Blumen.
Jutta sitzt am Tisch und betrachtet alte Fotos und Dokumente.
(Im Theater können diese auf Leinwand oder Monitor projiziert werden.)

Jutta: Heute ist Erichs Geburtstag, er wäre erst 76 geworden. Er könnte noch leben und schreiben. Die Zeit verläuft kreisförmig – wenn man alt ist, erinnert man sich an die eigene Jugend und sieht sie klarer denn je vor sich.
Mein Name ist Zambona, ein italienischer Name, mein Vater stammt aus Italien. Vielleicht lernte ich deshalb so eifrig Italienisch und liebte es, es zu sprechen.
In Porto Ronco, in der italienischen Schweiz, fühlte ich mich, als wäre ich heimgekehrt.
Das bin ich um 1930.
(Zeigt Foto auf der Leinwand: Ilse Jutta Zambona (IJZ) um 1930, aus EMR 1898-1970, Bramsche: Rasch 1988, S. 10)
Als Erich Paulette heiratete und wir uns immer seltener sahen, fuhr ich ’65 einfach nach Italien und lebte fünf Jahre lang mit meinen geliebten Hunden in Ospedaletti.
Besonders mochte ich meinen Pudel „Boni“, den ich nach Erich benannt hatte. Boni erinnerte mich an unseren Hund „Billy“, den wir Ende der Zwanziger hielten.
(Zeigt Foto: EMR, IJZ und Billy, aus EMR 1898-1970, ebda., S. 23)
Es war eine wunderbare Zeit: Erich war noch am Leben und ich lebte in der Villa Paradiso, die vorher Katherine Mansfield gehört hatte, und las ihre Bücher.
Mein Vater Heinrich Zambona war der Sohn des Fabrikbesitzers Georg Zambona und meiner Großmutter Katharina Klein. Er war auch Fabrikbesitzer, zuerst einer Textilfabrik und später eines Chemiewerks in Hildesheim.
In dieser Stadt bin ich geboren worden, drei Jahre später als Erich, der in Osnabrück zur Welt kam, kaum mehr als hundert Kilometer von Hildesheim. Wir stammen also aus dem gleichen sumpfigen Niedersachsen.
Nach dem Tod seiner ersten Frau blieben meinem Vater drei Töchter und ein Sohn.
Mit meiner Halbschwester Hertha war ich mein ganzes Leben befreundet und besuchte sie manchmal in New Jersey, als ich noch in New York lebte.
Ich wurde in der zweiten Ehe meines Vaters geboren und meine Mutter war Antonie Ida Werges, die ebenfalls die Tochter eines Fabrikbesitzers war und aus Bremen kam.
Die beste Freundin meiner Kindheit war meine Schwester Edith, die so alt war wie Erich. Sie beschützte mich immer vor Hunden, die ich damals fürchtete, als ich noch nicht wusste, dass nicht Diamanten, sondern Hunde die besten Freunde einer Frau sind. Hunde verschönern die Einsamkeit.
Meine Familie war reich und ich war es gewohnt, komfortabel zu leben, und wusste nichts von Not. Im Ersten Weltkrieg aber starb mein Vater 1916 und unsere Familie stand fast ohne Mittel da. Die Einschränkungen, die wir uns auferlegen mussten, führten dazu, dass ich an Tuberkulose erkrankte, und nur die Fürsorge meines ersten Mannes Werner und später auch Erichs sorgten dafür, dass ich noch am Leben bin.
Da ich reiche Verhältnisse gewohnt war, wartete ich nicht lange und verheiratete mich, erst 18-jährig, mit Werner Winkelhof, dem Sohn eines Tabakherstellers aus Hannover. Er gefiel mir, denn er war reich, aber nicht geizig, gut erzogen, er machte mir den Hof und tanzte sehr gut, was für mich als Tänzerin von großer Bedeutung war.
Wir lebten vier Jahre zusammen, aber 1923 lernte ich Erich kennen, der weder so reich war wie Werner, noch so gut erzogen, und der auch nicht so gut tanzen konnte. Dennoch legte ich nach meiner Scheidung im Januar ’24 mein gesamtes Leben in die Hände dieses Mannes, eines Überlebenden des Krieges und angehenden Reporters. Ich zog zu ihm nach Berlin, wo er für die Zeitschrift „Sport im Bild“ arbeitete.
Als Edith davon erfuhr, sagte sie mir, dass nicht nur meine Lunge, sondern auch mein Kopf nicht in Ordnung seien. Wir stritten uns eine ganze Nacht lang und am nächsten Morgen war ich am Ende. Vielleicht, weil mein Verstand genau wusste, dass sie recht hatte.
Wir heirateten zum ersten Mal am 14. Oktober ’25. Seitdem schickte mir Erich an jedem 14. Oktober Blumen, egal wo ich mich gerade aufhielt. Er liebte es, mir Blumen zu schenken, und kannte alle unsere Daten. Einmal, am 22. Oktober ’39, als ich in New York ankam, schenkte er mir sogar zwei Sträuße Blumen: einen zum Hochzeitstag und einen für die Ankunft.
Es sah sehr seltsam aus, als ich mit so vielen Blumen im Lager für Internierte ankam und die amerikanischen Soldaten scherzten: „Direkt aus Europa?“ „Ja“, sagte ich, „dort erhält jeder im Lager Blumen!“ Ich war damals noch nicht fähig, den ganzen Schrecken dieses Satzes zu erfassen.
Erich hatte zwei Schwestern: Seine ältere Schwester Erna lebte in Osnabrück in der Nähe des Vaters. Seine jüngere Schwester Elfriede Scholz war in Dresden verheiratet.
(Zeigt Foto: Elfriede Scholz, aus „Elfriede Scholz, geb. Remark. Im Namen des deutschen Volkes. Dokumente einer justitiellen Ermordung“, Osnabrück: Universitätsverlag Rasch 1997, S. 6)
Die Nazis brachten sie Ende ’43 in Berlin um, indem sie ihr den Kopf abhackten.
Seltsamerweise ließen sie Erichs Vater in Ruhe. Sein Vater besuchte Erich nach dem Krieg in Porto Ronco, es muss ’48 gewesen sein, als wir schon amerikanische Staatsbürger waren, und sie stritten lange.
Vielleicht gab Erichs Vater ihm die Schuld an Elfriedes Tod, denn bei der Verurteilung hatte der Richter gesagt: „Wir haben Sie zum Tode verurteilt, weil wir Ihren Bruder nicht greifen konnten. Sie müssen für Ihren Bruder leiden.“
Sie schickten Erna eine schreckliche Kostenrechnung für die Hinrichtung Elfriedes. Womöglich wollten sie Erich die Rechnung schicken, kannten aber seine Adresse nicht.
(Zeigt Dokument: Kostenrechnung, Strafsache gegen Scholz, ebda., S. 121)
Jetzt weiß ich, was für die Nazis ein menschliches Leben wert war: 495 Reichsmark und 80 Pfennig (inkl. Portokosten). Hätte Erich mit mir nicht eine zweite Scheinehe geschlossen und uns Pässe aus Panama besorgt, so hätte mich dasselbe Schicksal erwartet wie Elfriede.
Dies sind unsere Pässe.
(Zeigt Dokument: Pass der Republik Panama, EMR 1898-1970, Bramsche: Rasch 1988, S. 69)
Der Richter Freisler, der Elfriede verurteilt hatte, vielleicht lebt noch heute in irgendeinem kleinen Haus in Deutschland. Auch deswegen konnte ich nie in die Heimat zurückkehren, um nicht dem Richter Freisler zu begegnen.
(Pause)
Dieses Foto von Erich gefällt mir besonders.
(Zeigt Foto: EMR im US-amerikanischen Exil in den 40-er Jahren, aus EMR 1898-1970, ebda., S. 70)
Es erinnert mich an unsere Reisen zu meiner Schwester Hertha in New Jersey. Einmal fuhr Erich mit einem Cabrio so schnell, dass wir mein leuchtendes Halstuch und Erichs Lieblingshut verloren. Es war nicht der schlimmste Verlust in unserem Leben…
(Pause)
Hier ist Erichs Haus in Porto Ronco.
(Zeigt das Foto aus EMR 1898-1970, ebda., S. 110)
Ich schwamm immer gerne in diesem See und Erich schaute mir dabei zu. Er hatte überhaupt den Charakter eines Beobachters. (Pause)
Von allen Romanen Erichs gefällt mir „Drei Kameraden“ natürlich am besten. Nicht nur, weil ich der Prototyp von Patrice Hollmann bin – oder Pat, wie sie von Robert genannt wird –, sondern auch, weil diesem Roman etwas anhaftet, dem man außerhalb der Jugend nur noch sehr selten begegnet.
Hören Sie sich das an:
(Zeigt möglichst den entsprechenden Textausschnitt aus dem Manuskript oder Buch)

„Ich holte meine Rumflasche und ein Glas und stellte sie auf den Tisch. Otto ließ den Wagen an. Der Motor schlurfte ganz tief und verhalten. Lenz hatte die Füße auf der Fensterbank und starrte hinaus. Ich setzte mich neben ihn.
„Warst du schon mal betrunken, wenn du mit einer Frau zusammen warst?“
„Oft“, erwiderte er, ohne sich zu rühren.
„Und?“
Er sah mich mit schrägen Augen an. „Du meinst, wenn man dann was verboxt hat? Nie entschuldigen, Baby. Nie reden. Blumen schicken. Ohne Brief. Nur Blumen. Die decken alles zu. Sogar Gräber.“

(Wiederholt:) „Sogar Gräber“… Hm, eine gute Idee. (Geht zum Telefon:) Guten Tag, hier spricht Ilse Jutta Zambona-Remarque.
Sie verschicken Blumen?
Könnten Sie einen Strauß rote Rosen senden zur Villa Porto Ronco in der Schweiz? Das ist im Kanton Tessin.
An wen? An Erich Maria Remarque.
Von wem? Schreiben Sie: „Von Pat“. P-A-T.
Wie bitte? Sie haben den ersten Buchstaben nicht verstanden? Ein P, wie „Peter“.
(Pause)
Das ist alles. Ich habe Ihnen sechs wichtige Szenen meines Lebens erzählt. Jede Szene verging wie eine Minute und zusammen waren sie meine sechs Minuten vor dem Tod. Aber von diesen sechs Minuten verbrachte ER vier Minuten mit mir!

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